Kein Mensch ist illegal: Über unser Glück, hier geboren zu sein

Warum Teilen, Mitgefühl und Menschlichkeit mehr zählen, als Grenzen

Text: Lisa Crone

Yoga & soziales Engagement

Ich habe Urlaub und trinke meinen morgendlichen Kaffee, auf der Veranda unseres Mobilheims. Nebenbei scrolle ich durch meinen Instagram-Feed. Immer wieder tauchen Bilder von hungernden Kindern in Palästina und im Sudan auf. Hilfsorganisationen rufen unermüdlich zu Spenden auf. Es ist schrecklich - in mir zieht sich alles zusammen.

 

Dazwischen erscheint Werbung für Anti-Aging-Kosmetik für Frauen ab vierzig - wie mich. Kurz darauf ein Bericht über Massenvergewaltigungen im Kongo, die dort als Kriegswaffe eingesetzt werden. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Der nächste Beitrag ist eine Anzeige für eine Traumhausverlosung in Norddeutschland. In meiner Vorstellung hoffe ich, dass eine von Armut betroffene Familie das Haus gewinnt. Oder ein junger Sudanese, der vor Hunger und Krieg über das Mittelmeer geflohen ist und nun seine Familie nachholen kann. Dieser Gedanke gefällt mir.

 

Es folgt ein Reel von einer Yogalehrerin, mit Übungen für einen gesunden Rücken. Dann eine Werbung für ein Küchenutensil, das Spülmittel, Bürste und Lappen ästhetisch verstaut. Tolles Design, ich würde es direkt kaufen. Ich schüttele mich. Wir haben Probleme, denke ich. Und eigentlich wollte ich meinen Tag nicht mit Instagram beginnen, sondern den Himmel betrachten, den Vögeln lauschen und das morgendliche Lichtspiel in den Pinien genießen.

 

Ich lege das Handy zur Seite. Hier sitze ich nun mit all meinen Privilegien, verbringe Ferien mit meiner Familie an der französischen Atlantikküste, während Menschen in anderen Teilen der Erde unvorstellbares Leid erleben: Armut, Krieg, Misshandlung, Hunger, Tod. Das auszuhalten erfordert viel Ambiguitätstoleranz – ein Wort, das ich erst kürzlich gelernt habe. Es bedeutet, Gleichzeitigkeiten und Spannungsverhältnisse auszuhalten, ohne sie direkt auflösen zu können.

 

Ich denke an den Roman, den ich gerade lese: Alle, außer mir von Francesca Melandri. Er beschreibt eindrücklich, wie die dreijährige Flucht eines jungen Mannes aus Äthiopien nach Italien mit unserer europäischen Kolonialgeschichte verwoben ist. Wie unsere Gier nach Geld und Rohstoffen afrikanische Wirtschaftssysteme zerstört. Wie wir scheinheilig die Demokratie hochhalten und gleichzeitig Geschäfte mit Despoten machen, ihnen Waffen liefern, während ihnen die eigene Bevölkerung gleichgültig ist. Menschen, die sich für Demokratie und Gerechtigkeit einsetzen, müssen fliehen und wir lassen sie auf dem Mittelmeer ertrinken.

 

Dabei sind es Europäer gewesen, die über Jahrhunderte in andere Länder einfielen, ihre Sprache und Kultur aufzwangen, Menschen verschleppten und versklavten. Wir profitieren bis heute von diesen Strukturen und beschweren uns nun, dass sie zu uns kommen? Mir wird schlecht, wenn ich über unsere Arroganz und menschenverachtende Asylpolitik nachdenke.

 

Ein Satz aus dem Roman hallt nach:

"Wenn ein Wesen an einem Ort nicht mehr überleben kann, stirbt es oder geht weg. Menschen, Thunfische, Störche, galoppierende Gnus in der Savanne. Auswanderungswellen sind wie Gezeiten, wie Stürme, wie Umlaufbahnen der Planeten, wie Geburten – sie lassen sich nicht aufhalten. Und schon gar nicht mit Gewalt, obwohl dies eine weit verbreitete Illusion ist."

 

Ich stehe auf, um mir einen zweiten Kaffee zu kochen. Während die Milch schäumt, denke ich an den jungen Eritreer, der vor zwei Jahren bei uns strandete.

 

Wir wohnen neben einem kleinen Stadtteilbahnhof in Freiburg. An einem kalten Novembermorgen war ich auf dem Weg zur Physiotherapie. Am Bahnsteig stand ein junger Mann, ohne Winterjacke, nur eine dünne Fleecedecke um die Schultern gelegt. Ich dachte mir zunächst nichts, war in Eile, und ging zur Garage. Dort sprach mich ein älterer Mann an:

"Haben Sie den Schwarzen da oben schon öfter gesehen?"

Verwundert fragte ich nach dem Grund. Er antwortete: "Das ist bestimmt ein Illegaler. Die kommen gerade alle aus der Schweiz." Dann begann er, auf seinem Handy zu tippen. Auf meine Nachfrage sagte er, er wolle die Polizei rufen.

 

Nun hatte ich ein ungutes Gefühl, doch ich musste los. Ich ging zurück ins Haus und bat meinen Mann, ein Auge auf den jungen Mann zu haben. Kurz darauf lief er, etwas verloren, an unserem Haus vorbei. Ich sprach ihn an - erst auf Deutsch, dann auf Englisch und Französisch. Doch er verstand mich nicht. Da ich gehen musste, ließ ich ihn mit meinem Partner und Google Translate zurück.

 

Als ich zurückkam, saß der junge Mann bei uns am Esstisch, aß Äpfel und Bananen aus unserer Schale. Er war offensichtlich hungrig. Mein Partner hatte gekocht. Der Junge besaß nur die Fleecedecke und sein Handy, das er bei uns auflud. Inzwischen wusste mein Mann, dass er aus Eritrea kam, und hatte die Erstaufnahmestelle für Geflüchtete informiert.

 

Wir aßen gemeinsam und verständigten uns mit Händen und Gesten. Wir konnten nur erahnen, was er erlebt hatte. Gleichzeitig spürten wir seine Dankbarkeit. Nach dem Essen brachte mein Mann ihn zur Erstaufnahmestelle. Seinen Namen habe ich vergessen, doch für mich bleibt er "der junge Mann mit der Fleecedecke". Ich hoffe, es geht ihm gut.

 

Immer wieder frage ich mich: Würden Menschen, die abfällig über Schutzsuchende sprechen und Grenzen wieder hochziehen wollen, genauso reden, wenn sie mit ihnen an einem Tisch säßen?

 

Was würden wir tun, wenn wir in einem Land lebten, in dem Krieg herrscht? Wenn wir wegen unserer politischen Haltung verfolgt würden? Oder wenn Klimawandel und ungerechter Welthandel unsere Lebensgrundlagen zerstörten? Wir würden auch fliehen!

 

Um diese Krisen zu bewältigen, brauchen wir Mitgefühl, Empathie und Solidarität - Werte, die wir im Yoga kultivieren. Alles ist miteinander verbunden. Unser Wohlergehen hängt mit dem Wohlergehen aller zusammen. Deshalb gilt: Kein Mensch ist illegal.

 

Ich schaue auf meine Füße, die Sonne glitzert auf meinen lackierten Nägeln. Der Tag wird wärmer. Ich nehme den letzten Schluck Kaffee, steige aufs Rad und fahre zur Bäckerei. Ein sonniger Strandtag liegt vor uns. Ich widme mich wieder meinem privilegierten Leben und denke gleichzeitig daran, dass es nur Glück war, in diesen Teil der Erde geboren worden zu sein.

Die Praxis endet nicht an der Matte. Deshalb unterstützen wir als Yogaschule mit einem monatlichen Beitrag SOS Humanity - Zivile Seenotrettung im Mittelmeer. Damit kein Mensch auf der Flucht ertrinken muss.


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Bild: Soumya Parthasarathy | unsplash.com

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