Die Kleshas - Stolpersteine auf dem Yogaweg

Text: Lisa Crone

Patañjali hat vor über zweitausend Jahren einen der wichtigsten Grundlagentexte des Yoga verfasst. Mit seinem achtfachen Yogaweg gibt er uns bis heute einen Kompass an die Hand, um auf den verschlungenen Pfaden des Lebens und der spirituellen Suche die Orientierung zu behalten.

 

Dieser Kompass hilft uns, uns immer wieder neu auszurichten, auch wenn wir stolpern, straucheln oder uns im Dickicht verlieren.

 

Im zweiten Sutra seines Leitfadens beschreibt Patañjali das Ziel von Yoga:

 

yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ

Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Bewegungen des Geistes.

 

Dann beginnt er die Analyse und fragt: Was bringt unseren Geist überhaupt in Bewegung? Wenn wir innerlich unruhig, zerstreut, rastlos und unausgeglichen sind, beeinflusst das natürlich auch unser Handeln. Wir beschäftigen uns mit Vergangenheit und Zukunft, statt im Hier und Jetzt präsent zu sein. Ein unruhiger Geist kann keine klaren Entscheidungen treffen. Das Ergebnis ist Leid (duḥkha) in unterschiedlichster Form.

 

Patañjali nennt fünf Kleshas (kleśa), die er als Hauptursachen für dieses Leid beschreibt. Die gute Nachricht: Er zeigt auch einen Weg, wie wir zukünftiges Leid vermeiden und so mehr Leichtigkeit (sukha) und Freude in unserem Leben finden können.

 

Das Entscheidende ist, dass wir die Stolpersteine nicht bekämpfen, sondern als Teil unseres Daseins betrachten. Sie sind eine Einladung, innezuhalten, tiefer zu schauen, unser Herz zu öffnen - auch für das Annehmen und Akzeptieren von Leid. So kann jeder Stolperstein ein Hinweis sein, eine Pause einzulegen und bei Bedarf eine neue Abzweigung zu nehmen.

 

Vom Schmerz

 

Und eine Frau sprach und sagte: Erzähle uns vom Schmerz.

Und er sagte:

"Euer Schmerz ist das Aufbrechen der Schale, die euer Verstehen umschließt.

Ebenso wie der Stein des Pfirsichs aufbrechen muss, damit sein Herz sich in die Sonne erheben kann, müsst ihr den Schmerz erfahren.

Und könntet ihr in eurem Herzen das Staunen über die täglichen Wunder eures Lebens wach halten, erschiene euch euer Schmerz nicht weniger wunderbar als eure Freude..."

 

Khalil Gibran - Der Prophet

 

So beschreibt auch Khalil Gibran Schmerz nicht als Feind, sondern als notwendige Öffnung, ganz im Sinne der Lehre von den Kleshas.

Die fünf Kleshas

Kleśa bedeutet "störende Kräfte" oder "das, was belastet".

  1. Avidya (ávidyā) – Unwissenheit, falsches Verstehen, Verwechslung
  2. Asmita (asmitā) – Selbstbezogenheit, Egoismus, falsche Einschätzung der eigenen Person
  3. Raga (ragā) – Gier, Anhaften, das unstillbare „Haben-Wollen“
  4. Dvesha (dveṣa) – Abneigung, Vermeidung, Vorurteil
  5. Abhinivesha (abhiniveśa) – Angst, besonders die Angst vor dem Tod, Festhalten

Avidya - Unwissenheit

Avidya ist das Haupthindernis auf dem Weg zu Ruhe und Klarheit und liegt allen anderen Kleshas zugrunde. Wir glauben, die Welt objektiv zu sehen, dabei ist unsere Wahrnehmung geprägt von Kindheit, Erfahrungen, Sozialisierung und Glaubenssätzen. Wir bewerten Menschen und Situationen nach Erwartungen, Ängsten und Projektionen.

 

Wenn wir das erkennen und den "Schleier der Unwissenheit" lüften, öffnet sich der Weg zu vidyā - Weisheit und Erkenntnis. Wir sehen klarer und erkennen: Der Stolperstein ist ein Lehrer.

 

Avidya bedeutet auch Verwechslung: Wir suchen Glück im Vergänglichen, klammern uns an Dinge oder Menschen und vergessen, dass alles in der Erscheinungswelt unbeständig ist. Yoga lädt uns ein, das Glück im Inneren zu entdecken und schmerzvolle Erfahrungen zu integrieren.

 

Reflexionsfragen

  • Wo in meinem Leben habe ich vielleicht "falsches Wissen" für Wahrheit gehalten?
  • Welche Überzeugung oder Erwartung könnte ein Schleier sein, der meinen Blick trübt?
  • Wie fühlt es sich an, wenn ich für einen Moment alles so sein lasse, wie es ist?

Asmita - Selbstbezogenheit

Wenn wir unsere subjektive Wahrnehmung nicht durchschauen, machen wir unsere Sicht zum Maß aller Dinge. Wir handeln selbstbezogen und verstricken uns in Ego-Mustern.

 

Asmita lädt uns ein, das Herz zu öffnen und unsere engen Sichtweisen loszulassen. Wir schaffen Raum für Zuhören, Verständnis und Akzeptanz.

 

Reflexionsfragen

  • Wann verhalte ich mich so, als wäre nur meine Sichtweise richtig?
  • In welchen Momenten fällt es mir schwer, anderen wirklich zuzuhören?
  • Wie könnte ich im Alltag öfter mit offenem Herzen reagieren?

Raga - Anhaften

Raga konfrontiert uns mit unseren Bedürfnissen. Sie sind wichtig, doch wenn wir sie verdrängen, verwandeln sie sich in Gier oder ein rastloses "Haben-Wollen". Das kann sich in Sucht, Materialismus oder übermäßigem Verlangen nach Anerkennung und Aufmerksamkeit äußern.

 

Raga lädt uns ein, innezuhalten und das Verlangen bewusst zu hinterfragen: Warum will ich das unbedingt? Tut es mir wirklich gut? Oder gibt es etwas, das mich auf einer tieferen Ebene nährt?

 

Reflexionsfragen

  • Was wünsche ich mir gerade am meisten – und warum?
  • Fühle ich mich wirklich erfüllt, wenn ich bekomme, was ich unbedingt haben möchte?
  • Welche Bedürfnisse verbergen sich vielleicht hinter meinem "Haben-Wollen"?

Dvesha - Abneigung

Dvesha ist das Gegenstück zu Raga: das "Nicht-Haben-Wollen". Wir vermeiden unangenehme Gefühle, Situationen oder Menschen. Oft steckt Scham, Schmerz oder Angst dahinter.

 

Dvesha zeigt sich auch in Vorurteilen. Wir lehnen etwas ab, weil es uns fremd ist, ohne es wirklich kennenzulernen. Diese Muster halten uns verschlossen.

 

Reflexionsfragen

  • Welche Gefühle oder Situationen versuche ich zu vermeiden?
  • Wo reagiere ich ablehnend, ohne wirklich hinzuschauen?
  • Was könnte entstehen, wenn ich mich neugierig statt abwehrend öffne?

Abhinivesha - Angst

Abhinivesha ist tief in uns verwurzelt. Angst schützt uns, kann uns aber auch lähmen und kontrollieren. Wenn wir sie verdrängen, entsteht innere Unruhe oder sogar Panik.

 

Yoga lädt uns ein, Angst bewusst wahrzunehmen, anzuerkennen und zu unterscheiden: Dient sie meinem Schutz oder hält sie mich zurück? Atem- und Achtsamkeitsübungen helfen, Gedanken und Gefühle zu beruhigen. Erdende Haltungen stärken das Vertrauen und unterstützen uns, das "Kontrollieren-Wollen" loszulassen.

 

So kann selbst die Angst zu einer Lehrerin werden, die uns erinnert, das Leben im Vertrauen zu umarmen.

 

Reflexionsfragen

  • Welche Ängste halten mich momentan zurück?
  • Wie fühlt sich Angst in meinem Körper an - und wie, wenn ich sie bewusst zulasse?
  • In welchen Momenten kann ich Vertrauen statt Kontrolle üben?

So werden die Kleshas, anstatt Hindernisse zu sein, zu Wegweisern: Sie laden uns ein, genauer hinzusehen, unser Herz zu öffnen und Schritt für Schritt mehr Klarheit, Ruhe und Leichtigkeit im Leben zu erfahren.

Zum Abschluss

Nicht jeder Stolperstein muss sofort als "Chance" oder "Lehre" verstanden werden. Es gibt Hindernisse und Erfahrungen, die einfach schmerzhaft sind und die wir uns nicht ausgesucht haben. Dazu gehören zum Beispiel Diskriminierung, Krankheit oder Verluste.

 

Gerade im Yoga kann manchmal die Erwartung entstehen, wir müssten alles sofort positiv sehen, das nennt man auch toxische Positivität.

 

Doch Yoga lädt uns nicht dazu ein, Schmerz zu verdrängen oder zu beschönigen. Vielmehr schenkt er uns Werkzeuge, um mit dem Schmerz präsent zu bleiben, ohne uns in ihm zu verlieren. Atem, Achtsamkeit und Bewegung können uns darin unterstützen, das Schwere auszuhalten, es Schritt für Schritt zu integrieren und dadurch einen inneren Raum von Mitgefühl, Kraft und Vertrauen zu entwickeln.


Anmerkung:

Damit die Texte leichter lesbar bleiben, nutzen wir die eingedeutschte Schreibweise der Begriffe. In Klammern findest Du die ursprüngliche Sanskrit-Form, manchmal auch kursiv hervorgehoben. So möchten wir sowohl die Verständlichkeit wahren als auch die Wurzeln dieser Worte würdigen.


Bild: Ashley Batz | unsplash.com

 

Literatur

  • BDYoga e.V. (Hrsg.): Der Weg des Yoga, Handbuch für Übende und Lehrende: Vianova Verlag 2007
  • Blitz, Gérard: Der Yogaweg des Patanjali - Ein kleiner Leitfaden für Übende und Lehrende: Verlag Via Nova 2008
  • Sriram, R.: Patanjali - Das Yogasutra: Theseus Verlag 2006

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